LIMBO (Im Dunkeln tappen) [Update]

«LIMBO puts players in the role of a young boy travelling through a hostile world in an attempt to discover the fate of his sister.»
So steht es in der Pressemitteilung, auf Xbox LIVE heißt es lapidar: "Uncertain of his Sister's Fate, a Boy enters LIMBO" bzw. "Ein Junge will wissen, was mit seiner Schwester passiert ist. So betritt er LIMBO". Im Spiel selbst erfährt man keinerlei Hintergrundgeschichte - es gibt keinen Text, keine Sprache, keine Erklärungen. Einzig der Titel ist ein werkimmanenter Anhaltspunkt und steht doch außerhalb des eigentlichen Geschehens. Die Reduktion setzt sich fort: Kaum Musik, keine Farben, keine Anzeigen, zwei Dimensionen, zwei Knöpfe.

LIMBO beginnt in einem Wald, Zwielicht erhellt die endlosen Baumriesen. Ein Junge liegt im Gras, schlägt die Augen auf und läuft los. Bald sieht er sich tödlichen Speergruben und Schnappfallen ausgesetzt, unbewohnt ist der unheimliche Forst also nicht: Andere Kinder leben dort (und schlimmeres), in Holzhütten und Baumhäusern samt Schaukeln. Doch sie mögen keine Fremden, wie ihre Fallen beweisen. Leichen hängen aufgeknüpft an Ästen, mit Speeren und Blasrohren greifen die Kinder den Jungen an. Durch die Abwesenheit jeglicher Einordnung und Anweisung ist der Spieler verstärkt angehalten, das Spielgeschehen zu interpretieren. Herr der Fliegen ist sicher der naheliegenste Gedanke, zumal es mehrere widerstreitende Kindersiedlungen zu geben scheint. Warum würde man auch sonst in die eigenen Fallen treten?

Im Wald ist das Spiel eine Neuauflage von Prince of Persia und vor allem Another World, also ein 2D-Jump&Run mit tödlichen Hindernissen. Die Entwickler sollen LIMBO selbst als "trial and death" bezeichnet haben. Dank zahlreicher, unsichtbarer Kontrollpunkte startet der Spieler nach einem Tod sofort direkt vor dem Rätsel und muss überlegen und probieren, wie er das Hindernis heil überwindet. Man läuft also stets ahnungslos in eine Falle und der Junge wird aufgespießt, zerquetscht, bricht sich das Genick oder ertrinkt. Ohne einen einzigen Schrei. Wirklich verstörend ist dies auf Dauer zwar nicht, aber packend, denn trotz des grafischen Schattentheaters bleiben es tote Kinder, von Fliegen umschwirrt, im Wasser verrottend. Und vom Jungen Spieler mehr als einmal zur Überwindung von Hindernissen missbraucht (kleiner Spoiler): Ein fremder Junge trottet langsam zum gegenüberliegenden Seeufer, kippt sich vornüber ins Wasser, ertrinkt lautlos - und der Spieler kann über seine treibende Leiche festen Boden erreichen. Erst später erfährt man am eigenen Leib, wieso der anderen Junge sich so verhalten hat.

Je weiter der Junge vorankommt, desto mehr Maschinen stehen im Wald herum. Baumstümpfe lassen auf ein Sägewerk schließen. Schlussendlich gelangt er in einen gigantischen Komplex, der zu Beginn tatsächlich nur eine Holzfabrik zu sein scheint. Doch ist bald der Zweck der Maschinen und Zahnräder nicht mehr erkennbar - Moderne Zeiten - und sie nehmen abstruse Größe an. Schließlich springt man auch über die Dächer einer Stadt, vielleicht, zumindest eines Hotels. Von anderen Kindern ist längst nichts mehr zu entdecken, die Natur ist verschwunden, obschon man immer wieder über "grüne" Flecken stolpert.

In diesem Teil von LIMBO, ungefähr das zweite Drittel, wandelt sich das Spielprinzip vom eher simplen Versuch-und-Irrtum hin zu komplexen und mehrstufigen Knobelaufgaben; die überraschenden Todesfallen gibt es kaum noch (dafür werden die Tode brutaler: Enthauptungen und Gedärme). Brilliant, wie die Rätsel trotz eines klaren Problems und begrenzter Möglichkeiten den Spieler beschäftigen und zum Nachdenken anregen, manchmal auch etwas in die falsche Richtung. Die Dichte der Rätsel ist mir jedoch teils etwas zu hoch gewesen, da man von einer harten Nuss sofort an die nächste gerät. Trotzdem ruft jedes gelöste Hindernis ein Gefühl der Genugtuung hervor.

[Ab jetzt große Spoiler!]

Im letzten Drittel tauchen dann sogar die Schwerkraft beeinflussende Apparate auf! Hier mag man an VVVVVV denken, interessanterweise wie Another World (und LIMBO) stilistisch herausstechend. Die Rätsel fußen dann auch wieder mehr auf Geschicklichkeit, ohne Frust aufkommen zu lassen. Eine logische Erklärung für diese Maschinen zu finden ist schwer, zumal die Realität gebeugt wird: Einmal sieht man unvermittelt ein Mädchen im Gras knieend - die Schwester? Doch der Junge kann sie da nicht erreichen und als er wenige Augenblicke später zurückkommt, ist das Waldstück und das Mädchen verschwunden, es gibt nur noch die Fabrikhallen. Riesige Zahnräder scheinen das gesamte Gebäude mehrmals auf den Kopf zu drehen, am Ende begegnet man gigantischen Leuchtbuchstaben - und einer Reifenschaukel in Riesengröße!

Schließlich ist das letzte Rätsel gelöst, aber plötzlich hält die Zeit inne, der Junge schwebt langsam durch die Luft und durchstößt eine Art vertikale Wassermembran. Auf einem Waldboden landend öffnet er die Augen, es ist aber nicht der Ort des Beginns seiner Reise. Die Maschinen und Gebäude sind verschwunden und endlich trifft man das Mädchen wieder, wie es irgend etwas aus- oder eingegräbt. Doch als sie den Jungen in ihrem Rücken bemerkt, wird der Bildschirm schwarz. Abspann.

Interpretationen

Der Limbus ist in der katholischen Theologie die Vorhölle für Seelen, die ohne eigenes Verschulden vom Himmel ausgeschlossen sind. Es verbleibt trotzdem unklar, was mit der Schwester passierte und was "LIMBO" ist, aber folgende Interpretationsansätze kommen in den Sinn:

LIMBO als moderne Orpheus-Sage? Ein Junge rettet ein geliebtes Wesen aus der Unterwelt - hier dargestellt als pervertierter Wald, von der Industrialisierung bedroht und verdrängt. In der Sage verliert Orpheus seine Geliebte, weil er sich am Ende zu ihr umblickt. Im Spiel ist das umgekehrt und wir sehen nicht, ob sich die Schwester (?) zu ihm umdreht.

Oder nur die Alltagssorgen verarbeitenden (Alb-)Träume eines Jungen (Limbus à la Inception)? Am Ende erwacht er symbolisch und geht zu seiner Schwester, die unter ihrem Baumhaus spielt. Vielleicht hatten sich die beiden gestritten? Oder die Schwester verirrt?

Nach dem Abspann wird auf das Hintergrundbild des Hauptmenüs umgeschaltet: Das Baumhaus, offenbar verfallen. Fliegen schwirren über dem Boden und zwar dort, wo das Mädchen im Gras kniete und ungefähr der Junge stand. Sind die beiden dort gestorben und das Spielgeschehen stellt eine Art Seelenreise des eigentlich toten Kindes dar, sein Übergang vom Leben in den Tod? Oder die Reise in bzw. durch den Limbus, in dem sie als "unschuldige Kinder" gelandet sind?

LIMBO ist publikumswirksam im Rahmen des "Summer of Arcade" erschienen und kostet 1200 Microsoft Points. Nach knapp vier Stunden hatte ich es durchgespielt. Im Dunkeln und in zwei Sitzungen ("We hope that some players will [...] shut the curtain and play through the entire game, alone, in the dark, in one sitting"). Düstere Atmosphäre, stilvolle Präsentation, famose Rätsel - ein herausragendes Spiel!

PS: Vergleiche, die mich noch interessieren, aber zu denen ich nichts sagen kann, weil ich die Titel nicht gespielt habe: Darstellung des Waldes bzw. der Dunkelheit in Alan Wake und Narration in Braid ("Befreie die Prinzessin. Denke über die Welt nach, und rette dich selbst").

LIMBO (Xbox 360)
Playdead 2010 | MobyGames | OGDb
Director: Arnt Jensen, Dino Christian Patti
Producer: Mads Wibroe
Aulbath (Gast) am 2010-09-14 21:16

Hmmm...

Eine Sache die insgesamt nicht zum Limbus passt ist das es ein Ort sein soll an dem es keine Schmerzen gibt - das trifft ja so auf Limbo nicht zu.

MMn passt auch die Orpheus-Sache nicht, weil wir ja gar nicht wissen ob sie wirklich gerettet worden ist. Zumindest würde dann irgendwie Symbolik fehlen das sie in den "Himmel" gekommen sind. Auch macht das Mädchen nicht den Eindruck sich wirklich zu freuen. Ich kann auch mit dem so offensichtlich inszenierten Durchbruch wenig anfangen, weil ich nicht was von wo nach wo wir uns bewegen. Vielleicht ist der Junge ja auch schon in der Hölle (was die Monster und brutalen Tode die es ja im Limbus wohl nicht geben könnte) erklären würde und er holt praktisch seine Schwester zu sich?

Ziemlich sicher bin ich mir das beide am Ende den Tod gefunden haben - aber wie oben erwähnt, nach Happy End / Errettung sieht's mir nicht aus. Auch endloses Warten in der Vorhölle auf das jüngste Gericht scheint nicht hinzukommen (es sei denn man zählt den Neustart des Spiels hinzu, sodaß sich die Geschichte also endlos wiederholt).

Ist das Ganze am Ende gar Religionskritik, das auch unschuldige Kinder am Ende bloß verrottende Leichen sind und es auch nach langen Qualen und tausend Toden keine Erlösung gibt, für niemanden?

HomiSite am 2010-09-14 23:05

Du hast recht, dass der katholische Limbus eigentlich keine richtige Hölle ist, sondern mehr so das notgedrungene Abstellgleis für Ungetaufte etc. Ich weiß nicht, ob die Beschreibung in Xbox Live von den Entwicklern stammt, aber wenn ja, wäre der Limbus in LIMBO wohl irgend erwas andere als der katholische (eben weil brutal und so; aber: Der Junge schreit nie => keine Schmerzen?).

Ich fand die (verdrehten) Parallelen zu Orpheus interessant bis auffällig - und wir können ja nicht wissen, ob sie gerettet wurde, weil das Spiel da eben aufhört (was ich übrigens an sich super fand). Aber es stimmt, dass das Mädchen sich offensichtlich erschreckt - warum? Und was gräbt sie da im Gras herum? (Der Durchbruch durch diese Wasserfläche ist interessanterweise für das Spiel sehr explizit, aber dadurch auch am verwirrendsten.)

Deine Idee, dass der Junge vielleicht aus der Hölle whatever zurückkehrt (er beim Baumhaus starb?) und seine Schwester holt/tötet, finde ich sehr interessant. Dann wäre die Antwort auf die Eingangsfrage, was mit ihr passiert ist: Sie hat im Gegensatz zum Jungen überlebt.

Ich hatte auch überlegt, ob das Spiel einen endlosen Kreislauf thematisiert, aber zumindest die beiden "Aufwachstellen" im Spiel sprechen dagegen. Kann natürlich sein, dass wir einfach nur nicht das Verbindende zu sehen bekommen (eben das Geschehen beim Baumhaus und wie der Junge wieder zum Startpunkt im Wald kommt).

Religionskritik: Könnte sein, auch wenn man dann ja eigentlich von einem katholischen Limbus ausgehen müsste.

Übrigens beschreibt die ConsolPLUS die anderen Kinder im Spiel als "menschenartige Schattenwesen", was ich erstmal zurückgewiesen hätte. Bedenkenswert jedoch: Wer im Spiel hat Augen? Der Junge, mindestes ein anderes Kind (dort wo der Boden einstürzt) - das Gesicht des Mädchens sehen wir nie...

PS: Spinne und Insekt sind einfach riesenhafte Versionen, aber es gibt ja dieses kleine Vieh, das man auch als Avatarextra bekommt, was nun gar nicht "weltlich" ausschaut.

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